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Claudia Behn

Rezension "Vetter aus Dingsda" im Gärtnerplatztheater München

München

Vetter aus Dingsda

17.12.2020 - Gärtnerplatztheater

(© Christian POGO Zach)


Mit Humor lässt sich die derzeitige Pandemiesituation viel besser überwinden, so dachte sich das Gärtnerplatztheater München mit seiner spritzigen Inszenierung der Operette „Vetter aus Dingsda“ von Eduard Künneke nach einem Lustspiel von Max Kempner-Hochstädt, librettisiert von Herman Haller und Rideamus, eigentlich Dr. jur. Fritz Oliven, zur Premiere gebracht als dritter Livestream des Theaters, am 17. Dezember 2020 um 19 Uhr.

Die junge, schöne und reiche Erbin Julia de Weert lebt bei Tante und Onkel, Wilhelmine und Josef Kuhbrot, auf dem Familienanwesen und erwartet voller Vorfreude ihre Volljährigkeit und die Rückkehr ihrer Jugendliebe, des Vetter Roderich de Weert, der vor sieben Jahren nach Batavia abgereist war. Inzwischen wirbt der reiche Landratssohn Egon von Wildenhagen um Julias Herz. Um eine schnelle Heirat zu ermöglichen, lässt sein Vater Julia für volljährig erklären. Das beunruhigt Onkel und Tante, da diese nicht auf das Erbe verzichten wollen und sie lassen ihren Neffen August Kuhbrot als Heiratskandidaten anreisen. Ein Fremder erscheint, der sich für Roderich ausgibt, dessen falsche Identität aber durch Egon von Wildenhagen entlarvt wird, der Fremde muss fort. Ein zweiter Fremder trifft ein, der sofort mit Hannchen anbandelt, es ist der wahre Roderich, der Julias Liebe nie ernstgenommen hatte. Alles fügt sich zum Guten, der falsche Roderich, eigentlich August Kuhbrot, bekommt Julia und der wahre Roderich sein Hannchen. Nur Egon von Wildenhagen bleibt einsam zurück.

Für die Münchner Produktion versetzte der operettenliebende Jungregisseur Lukas Wachernig, die Handlung in die 1960er Jahre, als Zeit des aufkommenden Freiheitsgefühls, des Aufbäumens der Jugend gegen die vermeintlich konservative Elterngeneration, angewandt auf die jungen emanzipierten Frauen, Julia und Hannchen, als aufmüpfige Jugend und die in erstarrten Verhältnissen verharrenden Onkel und Tante. Karl Fehringer und Judith Leikauf präsentierten ein quirliges, farbenfrohes Bühnenbild mit einer bunten Sitzecke, einem großen Schwimmbad mit Sprunganlage, einer Landschaft mit Fliegenpilzen und stilisierten Bäumen mit Lichtern in märchenhafter Atmosphäre, farbigen Requisiten und farbenfrohen zumeist grellen Kostümen (Kostüme: Dagmar Morell). Das stimmungsvoll-beschwingt musizierende reduzierte Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz leitete Andreas Kowalewitz, der auch die reduzierte Orchesterfassung erstellte.

Tante Wilhelmine Kuhbrot spielte Musicaldarstellerin und Schauspielerin Dagmar Hellberg, seit 2016/17 Ensemblemitglied, als behäbige, übermäßig dicke Tante in rosa Reifrock, in großem humoristischem Können, allerdings mit unbefriedigender stimmlicher Leistung. Als Onkel Josef Kuhbrot in rosa Jackett und schwarzer Hose, noch behäbiger als seine Frau, perfekt den fresssüchtigen, vom riesigen Leibesumfang in der Bewegungsfreiheit gehinderten Onkel mimend, agierte der freischaffende Musicalsänger und Schauspieler Erwin Windegger, der auch gesanglich genügte. Julia Sturzlbaum als Hannchen, in diversen Minikleidern mit zwei jungmädchenhaften Zöpfen, ist die Idealbesetzung dieser Rolle. Sie versteht es naiv, witzig und kokett zu verzaubern und lässt auch gesanglich nichts zu wünschen übrig. Der Ohrwurm „Onkel und Tante, ja, das sind Verwandte“, frech tanzend von Hannchen vorgetragen, unterstützt durch die beiden mittanzenden Diener, Musical-Bassist Peter Neustifter als Karl und Bariton Kammersänger Holger Ohlmann, seit 1995 Ensemblemitglied, als Hans, waren tänzerisch sehr bewandert und bereicherten die Szenerie stimmungsvoll. Den nimmersatten satirisch überhöhten Tante und Onkel, die aufgrund ihres unglaublichen Hungers, sich zu ungemein dicken, ausgestopften und dadurch in ihren Bewegungen humorvoll gehandicapten Personen entwickelt hatten, wurde in immerwährender Folge neues Essen aufgetischt, als vollständiger Gegenentwurf zu den beiden schlanken Mädchen. Sopranistin Judith Spießer, seit 2020/21 Ensemblemitglied, glänzte als blonde Julia in türkisem Minikleid in „Strahlender Mond, der am Himmelszelt thront“ mit zarter, leichter Sopranstimme in geschmeidigem Legato und beschwingter Leichtigkeit, doch in etwas ungewohnt schnellem Tempo. Sie erstieg den Sprungturm und blickte sehnsuchtsvoll zum Mond, in Gedanken an Roderich. Nachdem Egon von Wildenhagen Julia die Volljährigkeitserklärung von seinem Vater überbracht hatte, gerieten Hannchen und Julia in überdrehtes, aufgewühltes jugendliches Kreischen in höchsten Höhen. Der österreichische Tenor Daniel Gutmann, auch als Opern-, Konzert- und Liedersänger aktiv, seit 2019 Ensemblemitglied, spielte Egon von Wildenhagen mit hellblauem Anzug und riesigem Blumenstrauß, und ließ sängerisch und komödiantisch keine Wünsche offen, wobei ihm in den intensiven Bewegungsszenen sein Sportwissenschaftsstudium sehr zugutekam. Das Terzett „O werter Verehrter“ von Julia, Hannchen und Egon glückte in humoriger Interaktion und beschwingtem Spiel mit Egons Blumenstrauß und einem großen Schwimmring, der Egon den genügenden Abstand sicherte. Alles steigerte sich in wilden, schwungvollen Tanz. Die von Julias Volljährigkeit wenig beglückten Tante und Onkel werden in „Rein wird gemacht“ von Julia und Hannchen übermütig mit Besen in die Flucht geschlagen. Die von Fesseln der Abhängigkeit befreiten Mädchen werden immer übermütiger und wollen sich einen Spaß erlauben. Der erste, der ihnen über den Weg läuft, ist Opern- und Operettentenor Maximilian Mayer als Erster Fremder, seit 2016/17 Ensemblemitglied, im grünen Sportanzug mit leger offenem Hemd und grünem Rucksack, langhaarig und äußerst lässig. Julia und Hannchen kleiden sich in ihre silbern glitzernden Maskenballkostüme und grellen Perücken. Im Duett „Hallo, hallo, hier rief`s doch irgendwo – Ich hab` mich verlaufen – Sag` an, wer du bist? – Ich bin nur ein armer Wandergesell“ von Julia und dem Ersten Fremden, begeistert Mayer mit voluminöser schmelzender Opernstimme, großem Atemvolumen und Gefühlstiefe. Stimmung bringen die zwei Diener, die in ihren Glitzeranzügen vorübertanzen, um dem Fremden Essen aufzutischen, während Hannchen oben auf dem Sprungturm mit einer Drohne spielt. Im Duett „Ich trinke auf dein lachendes Augenpaar“ wird noch einmal offenbar, wie Maximilian Mayers Singvermögen die Leistungen der anderen meilenweit in den Schatten stellt, durch seine große Stimme, die an Volumen alle anderen weit übertrifft. In „Nicht wahr, hier ist`s wie im Zauberreich? – Und im Märchen, da wurden die beiden ein Paar – Ich bin nur ein armer Wandergesell“, glänzte Mayer, auf dem Sprungturm mit dem Deckbett als Himmelbett liegend, dem Himmel sehr nah, später auch in „Ganz unverhofft kommt oft das Glück – Wenn du glaubst, dass ich weiß, wer das ist – Der Roderich, der Roderich“ mit gekonntem Hüftschwung á la Elvis Presley, in eindrucksvoller, eindringlicher, teils auch zart ausgesungener, inniger Manier. In die folgende zwanzigminütige Pause wurden Interviews mit Mitwirkenden, Produktions-Trailer und der Hinweis des Intendanten auch „nicht vergessen zu glauben, wie wichtig das Theater ist“, gefügt. Ernste Worte als Unterbrechung der Lustspielhandlung.

Im zweiten Teil der Operette betätigten sich Tante und Onkel in Turnoutfits in einem satirischen Sportprogramm voll Witz und Ironie, in putziger, unbeholfener und komödiantischer Weise, während Hannchen und Julia sich ganz professionell im Federball übten. Der Fremde, der nun den gestreiften Anzug, das gelbe Hemd und gelbe Schuhe von Julias Bruder trägt, springt in Badehose ins Wasser und fragt Hannchen behutsam darüber aus, was er für seinen Identitätswechsel in Julias Verehrer Roderich wissen muss. Mit Julia allein, lügt er sich gekonnt mit seinem Halbwissen durch die Vergangenheit, mündend im gefühlvollen Duett „Weißt du noch, wie wir als Kinder gespielt? – Kindchen, du musst nicht so schrecklich viel denken! Küss mich, und alles wird gut“, in der sich der Fremde als selbstbewusster, autoritärer Mann erweist. Wieder kommt der tollpatschige Egon mit Blumenstrauß, dessen Papier er für den späteren Gebrauch aufhebt, was sich, als er mit den Blumen wieder abziehen muss, als sinnvoll erweisen sollte. Hannchen in rot-weißem Minikleid und Egon beglücken in „Ich hab an Sie nur stets gedacht“, wobei sich Gutmann als Humorist erster Güte erweist. Das Ensemble-Stück „Sieben Jahre lebt` ich in Batavia“ wird zum Kostümball, zum bunten Spektakel mit Gartenzwerg, Pilz, Affe, Katze, Blume, Außerirdischem und vielem mehr, passend zu „Ja, hier geht`s wie im Märchenland zu“. Egon bringt die Lügenkonstrukte zum Wanken, indem er die Ankunft des wahren Roderich ankündigt. Allgemeiner Unmut gipfelt in der Frage: „Sag an, bist du der Roderich?“ und der Antwort des Fremden, der aber weiterhin seinen wahren Namen verschweigt: „Dein Roderich bin ich nicht“ und in Anspielung auf Wagners Lohengrin: „Ich will geliebt sein, so wie ich bin“. Da Julia nur Roderich liebt, scheuchen Hannchen und Julia den Fremden in Sturmgetöse, Finsternis und Gewitter mit „Ob Sturm, ob Graus“ hinaus aus dem Garten. Egon in rotem Anzug mit aufgedruckten glitzernden Mündern liest einen Zettel aus der Gastwirtschaft vor, in der Roderich einkehren sollte, aber nie anlangte, in dem sein Aussehen genau beschrieben wird. Die Vermutung wird allgemein, dass der Fremde Roderich ermordet habe, nur Julia in schwarzer Trauerkleidung, hält zu dem verstoßenen Fremden. Hannchen wünscht sich derweil einen reichen Mann mit Auto in ihrem „Ach, heil`ger Nikolaus“ vom Nikolaus, das Wunder vollzieht sich sofort, ein Fremder, gespielt von Tenor Stefan Bischoff, seit 2016/17 Ensemblemitglied, in goldenem Anzug mit blonden Haaren und Sonnenbrille, kommt mit einem Auto an, verlobt sich mit Hannchen und stellt sich zu Hannchens Schrecken als Roderich de Weert vor. Hannchen nimmt nun alle weiteren Ereignisse in die Hand, stellt die Roderiche einander vor, lässt sie Anziehsachen und Identitäten tauschen und alles gipfelt in August Kuhbrots „Ganz unverhofft kommt oft das Glück – Im Namen des Gesetzes! – Er ist`s, er ist`s, der Augustin!“. Der echte Roderich de Weert verkleidet als August Kuhbrot erklärt Julia die wahre Lage und bittet um Verzeihung. Die Paare Julia und August Kuhbrot und Hannchen und Roderich de Weert finden zueinander, ein unvollständiges Happy End, denn Egon bleibt mit der Frage „Und was wird aus mir?“ einsam zurück.

Diese komödiantische spritzige Operette, die aktuellste Modetänze der Nachkriegszeit (1918-1921), kommerzielles Unterhaltungstheater, Batavia-Fox, Valse bostons und Tangos einbezog, wurde durch die einzigartige humoristische Durchwebung und Verknüpfung der drei musiktheatralischen Elemente Gesang, Tanz und Schauspiel, in einer höchst gelungenen Inszenierung von Lukas Wachernig ein einmaliges Erlebnis, das die Lachmuskeln enorm strapazierte. Insgesamt eine glänzende sängerische und darstellerische Meisterleistung, in deutlichster Diktion! Die durch eingespielten Applaus und Verbeugungen der Mitwirkenden vor leerem Saal und einer Zugabe, online Theateratmosphäre aufkommen ließ.

Dr. Claudia Behn

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